Büdingen, Nazis, Hexenverfolgung, Radfahren, Geocaching, Mittelalter
Ich habe das große Bedürfnis, euch von meinem verlängerten Oster-Ausflug zu berichten, der Alles das hatte, was im CW steht. Hier, schnallt euch an, geht los, Achtung #longread
Warum Büdingen?
Als ich so ungefähr 4 war, also Mitte der 70er, sind wir von Tübingen nach Büdingen gezogen. Mein Vater bekam eine Anstellung als Fachbereichsleiter Sprachen bei der Volkshochschule (was er bis an sein sehr frühes Lebensende mit 56 geblieben ist, aber das ist eine andere Geschichte). Meine Mutter war am Kreiskrankenhaus Mathildenhospital als Hebamme tätig.
Sie war durch ihre Lehrhebamme Maria Hipp, die Mitte der 30er in der Berliner Charité zusammen mit Pschyrembel (ja, DER Pschyrembel, der Maria Hipp wesentliches Wissen zur Geburtshilfe verdankt, aber auch das ist eine andere Geschichte) arbeitete, sehr stark antifaschistisch geprägt und hatte rote Haare. Ihr vorgesetzter Arzt war, sagen wir es mal vorsichtig, nicht frei von Misogynie und sie wurde öfter mal als Hexe diskreditiert von so ziemlich allen Männern (ich sage NICHT ALLE MÄNNER, ihr merkt das, ne‽) nicht nur im Krankenhaus.
Nach einem Jahr in Büdingen zogen wir um nach Rinderbügen, ein Dorf, so etwa 7,5 km entfernt. Anfang der 80er war die Büdinger Zeit zu Ende, wir zogen um nach Gießen, wo meine Mutter als Lehrhebamme die dortige Hebammenschule an der Uni aufbaute (die einschlägigen Konflikte nahmen auch dort nicht ab, aber auch das ist eine andere Geschichte).
Ich war in Büdingen im Kindergarten, in der Grundschule und in der 5. Gymnasialklasse (durch den Umzug nach Gießen wurde ich für die 6. Klasse in die Förderstufe zurückgestuft und musste für die 7. Klasse erneut meine Gymnasialtauglichkeit beweisen, aber auch das ist eine andere Geschichte). In der 5. Klasse las ich meine 1. Bravo (weil der aufregende spanische Junge immer Dr. Sommer las) und als wir mal eine Feuerwehr-Übung hatten so richtig mit Rettung über die Leiter aus dem 3. Stock hatte ich "Hurra Hurra die Schule brennt" auf meinem Walkman im Ohr.
Büdingen ist für mich seither ein sehr dichter Ort und ich möchte euch gerne auf meine Oster-Reise mitnehmen.
Das mit dem Radfahren:
In Büdingen lernte ich Radfahren. Ich erinnere mich daran, wie ich das 1. Mal einen kleinen Abhang in unserem Hinterhof runterfuhr und ohne zu bremsen gleich weitersegelte in den Garten, wo ich liegenblieb. Der Lenker war wohl ein wenig verwunden (siehe Bild mit früher - heute, das war kurz nach dem Sturz). Das war in Büdingen, ich war also 4. Später in Rinderbügen durfte ich mal das ganz neue 5-Gang-Rennrad(!) des Nachbarjungen fahren und kam mit dem Freitritt nicht klar - Zack, ab in's Gebüsch!
Mein Vater brachte mich morgens in die Schule - immer zu spät, so 5 Minuten. Jahrelang. Ihr wisst, was das in der Grundschule bedeutet: jeden Morgen die ganze Klasse "Ach, die schon wieder zu spät, haha wie peinlich!" Es half Alles nicht, jeden Abend bat ich meinen Vater Alles vorzubereiten, ich hätte es sogar für ihn übernommen, aber er versicherte, er wäre am nächsten Tag pünktlich - leere Versprechungen. Und wen das nun an toxische Haustyrannen erinnert - die Spur ist richtig, aber auch das ist eine andere Geschichte.
Jedenfalls war ich froh, irgendwann Radfahren zu können und damit nicht mehr abhängig zu sein von diesem herrschsüchtigen Manipulator.
"Das Fahrrad hat mehr für die Emanzipation der Frauen getan als irgendetwas anderes auf der Welt."
Susan B. Anthony 1896
Ich fuhr die knapp 8 km Rinderbügen-Büdingen entweder auf der Landesstrasse oder durch den Wald, wo auch die Lastwagen vom nahen Basaltbruch unterwegs waren. Ich war frei, ich war stark. Und seither ist das Radfahren ein Teil von mir.
Auf dem Weg zurück gab es, sozusagen als letzte Meile, einen extrem starken Anstieg. Einer von der Sorte, bei der der ganze Körper im Stehen in die Pedale gedrückt werden muss, damit es einen Meter voran geht und eins nicht wieder rückwärts den Berg runter rollt. Und Kurven über die ganze Strassenbreite gefahren werden müssen, um das Ganze überhaupt bewältigen zu können.
Zu Ostern 2025 hab ich es endlich geschafft, diesen Berg mal wieder mit dem Rad zu fahren und ja, da ist genau so ein steiler Anstieg, der hat mich ordentlich Laktat gekostet! Aber hey, ich kann's noch und damit hatte ich endlich diese offene Rechnung von meiner Lebens-Bucketlist <3
Das Ganze hat noch einen anderen Hintergrund: ich hatte jahrzehntelang Alpträume, in denen ich nie aus Rinderbügen wegkam. In Variationen kam ich immer weiter weg von zu Hause, aber nie über das Ortsschild hinaus. In der letzten Variante versuchte ich, per Anhalter wegzukommen. Es kam eine Pferdekutsche, die immer langsamer wurde und direkt vor mir schlief der Kutscher einfach ein. Ich und mein Fahrrad haben das jetzt 40 Jahre später erledigt - Tschekk!
Der Punkt Radfahren aus dem CW ist damit abgehakt.
